Leseprobe zum Buch
"Du mein Bruder Thomas"
Leben Licht Unsterblichkeit
im Thomas-Evangelium
Ich spürte, wie sehr es darauf ankam, mein eigenes Leben zu betreten, um mich zu blicken, nicht nur immer auf mein eigenes Wohl und Wehe bedacht zu sein. Ich hatte geglaubt, mein Leben zu steuern und etwas zu erleben, indem ich von Auftrag zu Auftrag im Kreis gelaufen war. Und bei dieser Dummheit wäre es geblieben. Außer dem Glauben an mich und meine Ordnung hatte es in meinem Leben nichts Festes gegeben. Dieser Glaube war sprunghaft und von Erfolg und Mißerfolg abhängig. So ging ich in mich, dabei wirbelte es, und ich hatte wieder das Gefühl, der feste Boden wich unter meinen Füßen. Als ob er die Macht hätte, die Erde unter mir verschwinden zu lassen, sagte er: “Vermagst du tatsächlich etwas zu besitzen, was zur Erscheinungswelt gehört?“
Meine Welt nannte er nur Erscheinungswelt, als ob sie nur mir so erschiene und es sie für ihn überhaupt nicht gäbe. Wie konnte sie nur für mich so erscheinen? Dann war ich wie der Esel am Schöpfrad oder Mühlstein, der sich nur in seiner eigenen, unbeständigen Welt im Kreise drehte. Da brauchte er tatsächlich nicht mit mir um mein Erbe zu streiten, wenn es dieses sowieso nur in meinem Kopf gab. Doch hatte er nicht recht? War ich nicht über Haus und Hof geschritten und hatte immer nur gedacht: Dieses gedeiht gut, das wird viel einbringen, wir brauchen mehr Platz für mehr Holz? Dabei war alles so da, egal wem es gehörte. Ich versetzte mich noch einmal in den Stolz, den ich hatte, alles gut und richtig zu machen. Wie ein Pfau war ich in meiner begrenzten Welt herumstolziert. Also war ich doch nicht so weit von seinen Tieren entfernt gewesen. Und wie um meine Haltung noch genauer zu beschreiben, sagte er: „Die Menschen bleiben an der Verwirrung ihres Verstandes kleben und sie erkennen ihren Wahn nicht. Ihr Denken klebt an ihren Werken. Das Feuer wird sie verbrennen.“ Dies galt auch für mich! Meine Welt hatte die Gestalt meines Denkens angenommen, und ich war in dieser Welt herumgelaufen und nicht wirklich vorwärts gekommen. Und das Feuer, das mich umgebracht hätte, war mein Eifer, meine Gier, mein Kampf um meine Welt, selbst meinem Esel war ich oft zuviel geworden. Also war ich schlimmer als ein Tier gewesen... Letztendlich sogar für mich selbst.
Er lächelte, und um mich zu trösten und mir Hilfe zum besseren Verständnis meiner selbst zu geben, sagte er: „Denn wer existiert, wenn nicht der Vater allein?“ Da sah ich, daß ich in einer falschen Existenz gelebt hatte, die nur von mir abhing. Ich hatte geglaubt, die Macht der Welt zu brechen, indem ich mich gegen sie stellte, mich durch Sorgen, Arbeit, Opfer aus ihr heraushob. Und wenn mir Gott bei der Erreichung meiner Ziele beigestanden hatte, so war es nur mein Hilfsgott, der so unwirklich war wie meine Erscheinungswelt. Von dieser Einbildung, die nur durch mich existierte, wollte er mich trennen. Ich fühlte, ich war bereit zu einem Sprung in ein neues Land, das ich war und selbst in mir trug, aber noch nicht kannte. Deshalb war es nötig, daß ich mich an mir ärgerte. Bis hierher war ich mit meinen Kräften gekommen, ich hatte alles Menschenmögliche versucht, aber vor ihm stand ich wie vor einer Wand. Ich sah ihn an. Er lebte in diesem neuen Land. Und es ging ihm gut. Jedenfalls war er mir haushoch überlegen.
Er sah meine Bereitschaft und sagte: „Selig, wer im Anfang steht, er wird das Ende erkennen und den Tod nicht schmecken.“ Gut, dann stand ich im Anfang von etwas, und ich stand vor dem einzigen Menschen, der mich alles Weitere lehren würde. Doch auch der alte Widerstand regte sich in mir. Alles ging zu schnell, plötzlich wurde alles anders, ich war ein Tier, das in einer unbeständigen Scheinwelt lebte. Doch in meinem Innersten wußte ich, daß alles stimmte, was er sagte und wofür er stand. Er hatte die wunderbare Gabe, außerhalb meiner Zweifel zu stehen und mir klar zu machen, daß dennoch alles auf mich ankam: „Wenn du umkehrst, dann wirst du gerettet werden und erkennen, wo du all die Tage warst, als du auf Leeres vertraut hast.“ Mein bisheriges Leben hatte mich irgendwie verschluckt. Was er vorschlug, es würde mich über alles mir Bekannte hinaus führen. Ich würde meine alte Welt zurücklassen und ihm in seine neue Welt folgen. „Ich habe mir und meinen Kräften vertraut. Wenn das nicht mehr ausreicht, so führe du mich weiter“, sagte ich, wie um mich ihm zu verpfänden. Sein Schwert würde mich von mir trennen. Da sprach er zum ersten Mal von einer Gemeinsamkeit zwischen uns: „Unser Kampf geht nicht gegen Fleisch und Blut, sondern gegen die Mächte der Welt und die Geister der Bosheit.“ Ich verstand. Ich konnte sein, wie ich war, aber es war Kampf angesagt gegen Besitzdenken, sorgende Ängstlichkeit, Arbeit und Mühe eines Lebens, in dem es immer etwas zu besiegen gab. Wieder verstand er mich, als er sagte: „Die Menschen sind zu Lebensbenutzern geworden, sie finden keine Zeit mehr, sich mit dem Heiligen Geist zu beschäftigen.“
Nie hatte jemand klarer und wirklicher gesprochen. In seiner Rede schienen sich ständig neue Welten für mich zu öffnen. Ja, genau so war es. Doch wenn ich allein war und darüber nachdachte, fand ich mich auf seltsame Weise begriffsstutzig. Wenn ich sie in meinem Verstand nachformte, zerplatzten seine Worte darin wie Seifenblasen. Hunderte Male dachte ich über sie nach. Ihr Inhalt war selbstverständlich. Doch in mir klangen seine Worte anders. Etwas war in mir, das seine Rede verfälschte. Sagte er: „Sorge dich nicht“, war mir klar, daß zwar er sich nicht sorgte, dies aber meine Sorgen und Nöte nicht vertrieb. Völlig überflüssige Sorgen noch dazu. Als ich ihm dies berichtete, lachte er. „Mein Bruder Thomas“, sagte er, „wie weise du redest. Wir leben nicht im Gleichen. Willst du wissen, was uns trennt?“ „Ja“, sagte ich, denn ich fühlte mich ausgeschlossen von seinem Himmel, von seinem Vater, von seinem Heiligen Geist.
„Geh zu dem Baum da drüben", sagte er beiläufig. Ich ging, wie er mir es aufgetragen hatte. Er schlenderte mir nach. Bei mir angekommen sagte er: „Was ist der Unterschied zwischen uns?“ „Du läufst langsamer als ich“, bemerkte ich, „und du genießt es mehr, du hast mehr Freude, wenn du gehst.“ „Ich gehe nicht, ich bin angekommen“, sagte er und verschränkte seine Arme. „Du hast dich zum Baum bewegt, weil du glaubst, daß du es bist, der sich bewegt, der alles tut, was du tust. Doch nur dein Körper bewegte sich. In dir hast du dich nicht bewegt. Nur der Schatten wurde zur Materie.“ Er blickte den Baum an, der fest und unbeweglich stand. „Auch mein Vater bewegt sich nicht, doch er gab dir die Macht, dich zu bewegen und zu glauben, daß du es bist, der es tut. Dennoch geschieht nichts ohne ihn.“ Er lächelte und wiederholte: „Er bewegt sich nicht. Bewegtes ist nicht er.“ Er umrundete einmal den Stamm und es sah wirklich aus, als schwebte er, als bewegte er sich nicht. „Ich werde die Menschen bewegen“, sagte er, „doch zur Ruhe im Vater. Alles ruht in ihm.“
Er blickte in die Weite. „Wir werden auf eine Reise gehen, aber nichts wird geschehen. Wir werden uns nicht bewegen. Alles wird nur so aussehen.“ Mit kindlicher Freude lachte er mir zu, seine Augen leuchteten auf. „Erinnerst du dich an die Streiche, die wir anderen früher spielten? Wir werden der Welt einen Streich spielen, und es wird keiner sein. Nur wenige, darunter du werden dies zu seiner Zeit verstehen.“ Er nahm mich bei der Schulter. „Es ist gut, dass du mir nicht blind folgst. Dann würdest du blind bleiben.“ Er hob die feingliedrige und doch kräftige Hand. „Nur der Schatten bewegt sich, nicht das Licht.“ Ich fühlte etwas Neues in mich eindringen. Da war mir, als ob plötzlich seine Hand stillstand, obgleich sie sich bewegte. Ich war so ruhig, daß ich durch seine Bewegung hindurchsah und ihr nicht folgte. So sah ich eine bewegungslose Bewegung. Auch die Blätter des Baumes schienen still zu stehen, obwohl ich wußte, daß Wind ging. In mir bewegte sich nichts. Da war mir, als ob diese vollständige Ruhe plötzlich zu Licht wurde. Ich wußte, alles bewegte sich weiter, doch nichts in mir bewegte sich mit. Es war wie Schlaf mit offenen Augen. Oder war es ein Erwachen... In eine neue Welt... Ich blickte ihn an. Er war nicht mehr. Er schien auf meinen Zustand keine Rücksicht zu nehmen. Ich hörte ihn sagen, und es war, als ob nicht ich ihn hörte: “Die Wahrheit steht und das Seiende wird sichtbar. Die Dinge schlagen um in ein neues Sein. Denn die Unvergänglichkeit kommt herab auf das Vergängliche. Das Licht fällt auf die Finsternis und verschlingt sie. Der Vater füllt den Mangel.“
wir werden, was wir sehen“