Leseprobe zum Buch
"Gott und der Junge"
Eine wahre Geschichte
Die Begegnung mit dem alten Mann löste einen ungeheuren Wissensdrang in dem Jungen aus, wobei die Frage: ‚Wie kann ich wissen, was ich nicht weiß?’ immer mehr in den Mittelpunkt geriet.
Der Junge wusste nun, dass etwas Unbekanntes in ihm war, das ihn glücklich oder unglücklich machen konnte. Manches gefiel ihm, manches nicht, warum war das so? Warum gefiel ihm gerade das und nicht etwas anderes? Warum war er so, wie er war? Der Junge machte sich klar, dass all dies mit ihm selbst zu tun hatte.
Niemand konnte ihm die Arbeit abnehmen, diese neue Wirklichkeit wie ein unbekanntes Land zu erforschen. Vielleicht war der alte Mann nur mit dem Ziel erschienen, ihm dabei zu helfen? So fragte er ihn bei ihrem nächsten Treffen, kaum dass er das Haus betreten hatte, ganz direkt: „Wie finde ich die Teile, von denen wir gesprochen haben, von denen ich nichts weiß? Wo sind sie denn?“
„Ich kann sie dir zeigen“, sagte der alte Mann, als ob dies das Einfachste der Welt wäre. „Setze dich dort in den Sessel, schließe die Augen und vergiss deine Umgebung. Und nun stelle dir den Angelhaken in deiner Tasche vor. Du kennst ihn schon von früher. Und jetzt?“ Er machte eine Pause. „Ja“, rief der Junge, „ich sehe einen Piraten, der einen Fisch an Bord holt, ich glaube sogar, das bin ich.“ „Anderes Bild“, sagte der alte Mann. „Denke an den Mann draußen, der vom Trinken kam, fühle Einsamkeit und dass du dich verloren hast... Was siehst du?“ „Ich sehe einen Knecht, der sich ins Heu verkriecht und keine Kraft zum Davonlaufen hat... Ich glaube, das bin ich auch“, sagte der Junge nach einer Pause. „Gut, dann sei wieder hier und spüre die Umgebung“, forderte der alte Mann ihn sanft auf. „So könnte ich dir noch unzählige Seelenanteile zeigen, die alle mit dir zu tun haben, von denen du nichts mehr weißt. Aber sie sind sowieso da und nutzen sich nicht ab...“
„Aber wie weißt du davon und wie kannst du sie mir zeigen?“ wunderte sich der Junge. „Betriebsgeheimnis“, lächelte der alte Mann. „Sind das frühere Leben von mir?“ fragte der Junge, der sich an eine Diskussion im Fernsehen zu diesem Thema erinnerte. „Diese Leben sind jetzt genauso da, und sie sind nicht deine Leben, sie gehören dir nicht alleine, sondern allen Menschen, auch wenn sie durch dich geschahen.“
„Bin ich dann viele Menschen?“ wunderte sich der Junge. „Das kann man wohl sagen“, stimmte der alte Mann zu. „Die Menschen sind multiple Wesen geworden, so nennen das heute die Spezialisten.“ Der alte Mann lächelte. „Alle Menschen haben diese Seelenanteile um sich. Jeder Mensch hat seine besondere Konstellation.“ „Dann gibt es einen besonderen Himmel extra für mich?“ „Mit Milliarden mal Milliarden Anteilen, das kannst du dir nicht vorstellen. Der Betrieb da oben arbeitet mit riesigen Überschusspotenzen.“ Der alte Mann lächelte, als er das in einem fast selbstzufriedenen Ton sagte.
Der Junge war verwirrt, dies alles wurde ihm fast zuviel, er wollte lieber wieder der ganz normale Junge mit Pfeil und Bogen und ein bisschen mitgenommener Kreide aus der Schule sein. Und lieber als er selbst angeln, und nicht, weil er es als Pirat gelernt hatte. „Wozu das alles, es ist ja vorbei“, sagte er etwas abwehrend, denn wie sollte er neben seinen normalen Problemen auch noch mit denen anderer Menschen fertig werden, zu denen er diese besonderen Verbindungen hatte? Der alte Mann verstand die Schwierigkeit und sagte milde: „Nichts ist jemals vorbei, in all diesen Dingen hast du dich gebildet. Hier ist Wissen, das du nie in der Schule lernst. Es macht dich einzigartig.“
„Das ist ja wunderbar“, sagte der Junge, als ihm plötzlich die wirkende Kraft des Verborgenen aufging, „das ist ja wie im Krimi, ich suche mich und will wissen, wer ich bin, obwohl alles schon angelegt ist...“ „Ja“, kommentierte der alte Mann, „du suchst dich wie der Kommissar den Täter sucht, obwohl du gleichzeitig Kommissar und Täter bist...“ und er dachte an die vielen Menschen, die einfach nur tun wollten, die aber nicht wissen wollten, was sie taten und wer sie durch ihre Taten wurden.
Und er freute sich über den Jungen, der im Begriff war, zu sich aufzuwachen.
wir werden, was wir sehen“